Mehrsprachigkeit fördern in Familien, Kitas und Schulen
Ein Interview mit Frau Ringler vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.
Frau Ringler, Sie sind in der Bundesgeschäftsstelle des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. Ansprechpartnerin für die interkulturelle Bildung, insbesondere mehrsprachige Bildung. Mit welchen Anliegen kommen Ratsuchende zu Ihnen? Mit welchen Anliegen kommen Ratsuchende zu Ihnen?
Ich bin vor allem für die Koordination und Konzeption unserer Bildungsarbeit zuständig, plane zum Beispiel Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte im Bereich Mehrsprachigkeit. Aber natürlich melden sich auch viele Eltern bei uns mit der Frage, wie sie mit Deutsch als Schulsprache und ein oder mehreren Familiensprachen ein bestmögliches Modell für ihre Familie finden können. Ein allgemeingültiges Modell gibt es da nicht. Ich frage die Familie immer, welche emotionale Bedeutung die beteiligten Sprachen haben, wie viel Zeit für jede Sprache zur Verfügung steht, und welche Erwartungen die Eltern an die Mehrsprachigkeit ihrer Kinder haben. Genügt beispielsweise die mündliche Verständigung mit der Familie, oder soll später auch eine Alphabetisierung erfolgen? Wichtig ist mir, deutlich zu machen, dass es immer das Beste für das Kind ist, mit ihm in der Sprache zu kommunizieren, mit der man am besten eine gute und tiefe emotionale Beziehung sicherstellen kann.
Einen Einstieg zum Thema mehrsprachige Erziehung bietet der Verband mit den kostenlosen Broschüren "In vielen Sprachen zu Hause" in zehn jeweils zweisprachigen Ausgaben, z. B., auf Deutsch und Arabisch. Welche Rückmeldungen erhalten Sie auf diese Broschüren hin?
Wir haben die Broschüren bewusst niederschwellig angelegt, da wir gesehen haben, dass viele Eltern sehr verunsichert sind, was die mehrsprachige Erziehung betrifft. Sie hören leider immer noch von Seiten der Tageseinrichtungen, Schulen und Ärzt:innen, dass sie „mehr Deutsch" mit dem Kind sprechen sollten. Und das, obwohl längst belegt ist, dass gute Kenntnisse einer Sprache nichts von der anderen wegnehmen, sondern dass Kinder im Gegenteil besser Deutsch lernen können, wenn sie in beiden Sprachen gefördert werden.
Dieser fatale Rat, „mehr Deutsch" mit dem Kind zu sprechen, wird häufig migrantischen Familien erteilt, die also zu Hause ausschließlich die Familiensprache sprechen und selbst Deutsch als Fremdsprache lernen. Sie sind dann wie gesagt sehr verunsichert, und das war der Hauptgrund für die Broschüren. Sie werden nach wie vor viel von unserer Seite heruntergeladen und als Druck angefordert, vor allem von Kitas. Wir hätten uns gewünscht, dass auch Familienzentren, Kinderarztpraxen usw. mehr Gebrauch von den Broschüren machen, das hat aber leider nicht so gut funktioniert.
Wir erhalten viele wertschätzende Rückmeldungen, vor allem von Familien, die in den Broschüren eine Bestätigung für das finden, was sie zuvor schon als das Richtige gefühlt hatten – ihre eigene Muttersprache mit dem Kind zu sprechen. Einige sagen uns auch, dass sie nun etwas in der Hand haben, das sie als Argument heranziehen können. Manche fühlten sich zuvor eher isoliert und sehen nun, dass es Stellen gibt, die sich mit familiärer Mehrsprachigkeit beschäftigen, an die man sich bei Bedarf wenden kann.
Eine Ihrer konkreten Empfehlungen ist das mehrsprachige Vorlesen, wofür Eltern auf Ihrer Seite auch eine Liste mit geeigneter Kinderbuchliteratur finden können. Eine Ihrer konkreten Empfehlungen ist das mehrsprachige Vorlesen, wofür Eltern auf Ihrer Seite auch eine Liste mit geeigneter Kinderbuchliteratur finden können. Mit dem Projekt „Unsere Omas und Opas erzählen in vielen Sprachen" haben Sie außerdem ein mehrjähriges Vorleseprojekt in Kitas durchgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Das war ein schönes Projekt, in dem wir Eltern und Großeltern für den ehrenamtlichen Einsatz in Kitas ausgebildet und sie während ihres Einsatzes begleitet haben. Die Vorleser:innen haben dann einmal pro Woche in ihrer Muttersprache ein Angebot gestaltet mit Liedern, Reimen, Zählen und natürlich dem Vorlesen, hauptsächlich mit den Kindern, die von zu Hause diese Sprache kannten, aber auch mit anderen Kindern, wenn sie wollten.
Das Projekt wurde sehr gut angenommen, ist aber auf die lange Zeit auch aufwendig gewesen, besonders die Qualifizierung und Begleitung der Ehrenamtlichen. Ohne öffentliche Förderung kann man das nicht lange machen. Daher haben wir, nachdem die Förderung ausgelaufen war, eine Broschüre und eine ausführliche Arbeitshilfe erstellt. Damit wollen wir unsere Erfahrungen und Empfehlungen teilen und weitergeben.
Diese Arbeitshilfe mit dem Titel „Vorlesen mehrsprachig gestalten" ist ein konkreter „Fahrplan" für Pädagog:innen, die mehrsprachige Vorleseangebote gestalten wollen. Doch welchen Rat würden Sie Kindertageseinrichtungen und Familienzentren geben, die Eltern und Großeltern gern in Vorleseprojekte einbinden wollen, aber keine eigenen Möglichkeiten der Qualifizierung und Begleitung der Interessierten haben?
Es ist schon wichtig, die Vorleser:innen inhaltlich-methodisch zu schulen. Außerdem brauchen sie eine:n feste:n Ansprechpartner:in und geeignetes Material – nicht jedes Buch, nur weil es zweisprachig ist, ist dafür geeignet. Die Bücher müssen frei von Klischees und Vorurteilen sein, Vielfalt darstellen und positive Identitätsmöglichkeiten für Kinder bieten, die nicht der weißen deutschen Mehrheit entsprechen.
Z. B. wird genau beschrieben, welche Kompetenzen eine Fortbildung vermitteln sollte, welche Inhalte besonders wichtig sind. Die Arbeitshilfe wird jedenfalls viel eingesetzt, das merken wir an den Anfragen von Kitas. Aktuell ist coronabedingt natürlich alles etwas anders, Gruppen können z. B. nicht so einfach gemischt werden. Da raten wir den Eltern, sich verstärkt Anleitungen zum mehrsprachigen Vorlesen aus dem Internet zu holen und stellen auf unserer Seite eine Linkliste bereit.
Sie haben auch Online-Workshops zum Thema Vorlesen angeboten. Gibt es die weiterhin?
Die Workshops gibt es weiterhin. Zum einen können Gruppen oder Träger ein Seminar buchen, die konkreten Inhalte passen wir dann je nach Bedarf an. Da kommen häufig Anfragen von Einrichtungen, die ehrenamtliche Vorleser:innen einsetzen möchten. Zum anderen bieten wir etwa einmal im Quartal Workshops zu einem konkreten Thema und bestimmten Termin auf unserer Seite an, die sind immer sofort ausgebucht. Dazu gehörte beispielsweise ein dreiteiliger Workshop für migrantische Väter zum Thema mehrsprachige Erziehung. Dazu gehörte beispielsweise ein dreiteiliger Workshop für migrantische Väter zum Thema mehrsprachige Erziehung.
Es gibt insgesamt mehr Nachfrage, als wir abdecken können, denn wir haben eigentlich keinen Etat für diesen Bereich. Wir versuchen immer wieder, Projekte hierzu auszuschreiben und Fördermittel einzuwerben, aber das ist sehr schwierig, besonders zum Thema Mehrsprachigkeit. Von öffentlicher Seite kommt dann: Warum machen Sie nichts zur Deutschförderung? Das jegliche Sprachenförderung die Kinder stärkt und den Boden bereitet, auch das Deutsche weiter zu entwickeln, wird meist nicht verstanden. Ich denke, ich darf das so hart sagen: Die mehrsprachige Förderung wird von integrations- und migrationspolitischer Seite nicht anerkannt, das sind unsere Erfahrungen. Und das selbst dann, wenn man die Ergebnisse der Mehrsprachigkeitsforschung an die politischen Stellen heranträgt.
Die gefühlte Befürchtung einsprachig aufgewachsener Entscheidungsträger:innen ist vielleicht immer noch, dass die Förderung der Familiensprachen etwas vom Deutschen wegnehmen könnte. Oder dass beispielsweise in den Vorleseprojekten die nur-deutschsprachigen Kinder keinen Nutzen aus dem „fremdsprachigen" Angebot ziehen. Haben Sie Erfahrungen sammeln können, inwieweit sich auch Kinder mit deutscher Familiensprache an anderssprachigen Angeboten beteiligen?
In Kitas mit ausreichend Kindern einer bestimmten Familiensprache gingen meist nur diese in die Vorlesestunde. Es hat aber auch die Situation gegeben, dass es nur ganz wenige Kinder einer bestimmten Familiensprache gab. Da haben wir mit den Kindern vereinbart, dass wir für alle vorlesen wollen, und sie von Anfang an anders einbezogen: Habt ihr Lust, da mitzumachen, helft ihr uns mit den Wörtern?
Manchmal haben wir dann ein Buch in mehreren Sprachen genommen, dessen Geschichte die Kindern inhaltlich schon kannten, das sie dann aber in einer anderen Sprache erlebt haben. Der Fokus lag in diesem Fall weniger auf dem Inhalt, als vielmehr auf dem Sprachvergleich: Wie klingt die Sprache, wie heißt diese Figur, welche Wörter sind ähnlich, welche ganz anders? Dazu können alle Kinder etwas sagen. Manchmal wurden neue Geschichten vorgelesen, auch längere Texte. Da gab es Kinder, die hinterher gesagt haben: Ich weiß nicht, was die gesagt haben, aber es war schön. Solche Kommentare gab es häufiger und wir stellen fest, dass die Kinder sich emotional auf das Experiment eingelassen haben, es interessant und angenehm fanden. Oft wurden solche sprachlich gemischten Gruppen aber vonseiten der Kitas abgelehnt.
Warum?
Es wird meist die Befürchtung geäußert, dass dann „alles durcheinander geht", die Kinder „nichts verstehen und nicht aufpassen" würden. Natürlich gibt es vereinzelt diese Reaktion und darf man von den Kindern nichts erzwingen. Wir hatten dann in Absprache mit der Kita eine Alternative parat, das betreffende Kind durfte woanders hingehen, was anderes spielen. Das kam aber nur selten vor. Die meisten kamen beim nächsten Mal wieder, selbst wenn sie die Sprache an sich nicht verstanden.
Ich erkläre mir die Bedenken so, dass man, wenn man selbst in einer einsprachigen Umgebung aufgewachsen ist, die mehrsprachige Situation ungewohnt findet. Die Situation z. B., in der gesprochen und gelacht wird und man selbst nichts versteht: dass das nicht bedeutet, dass man gerade ausgegrenzt und ausgelacht wird, sondern dass einfach nur gerade eine andere Sprache verwendet wird. Dass man keine Angst haben braucht, die Kontrolle über die Kommunikationssituation zu verlieren. Sprache ist ja ein Teil der Kultur und kann nicht einfach so „ausgetauscht" werden. Man nimmt ja auch Sprache nicht unabhängig von der Kultur wahr. Bei den Kindern scheint das nochmal unmittelbarer zu sein. Wenn sie über die Sprache einen Bezug zu etwas herstellen, dass sie schon einmal gesehen hatten oder mit dem sie vertraut sind, etwa durch Nachbarn, Freunde oder Urlaubsreisen, zeigen sie sich oft begeistert, freuen sich an der Entdeckung und dem Wiedererkennnungseffekt. Das finde ich sehr berührend.
Dann können wir nur hoffen, dass das Experiment „Mehrsprachigkeit" auch in den Kitas und Schulen weiter geht, zumindest nach dem Ende der coronabedingten Einschränkungen. Was wünschen Sie sich außerdem für die Zukunft?
Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft grundsätzlich stärker realisieren und akzeptieren, dass wir in einer mehrsprachigen Umwelt leben. Dass wir dem in den Bildungseinrichtungen Rechnung tragen. Und ganz wichtig wäre mir, dass wir aufhören, in „gute" und „schlechte" Sprachen zu unterteilen. Diese Hierarchisierung der Sprachen je nach ihrem Image bzw. dem Image der dahinter stehenden Kulturen und letztendlich Menschen verletzt und diskrimiert die Sprecher:innen. Wenn ich als Kind immer wieder erlebe, dass die Sprache, in der ich die Zuneigung und Liebe meiner Eltern erfahren habe, lächerlich gemacht oder abgelehnt wird, macht das etwas mit mir. Das ist vielleicht nicht schlimm, wenn es ein- oder zweimal passiert. Ein oder zwei Nadelstiche tun nicht lange weh. Wenn ich aber ein paar hundert Nadelstiche bekomme, ist das ein großer Schmerz und kann entsprechende Folgen haben. Da würde ich mir wünschen, dass wir uns bewusst werden, was wir mit solchen sprachlichen Kategorisierungen und Bewertungen an Diskriminierung und Schmerz verursachen.
Frau Ringler, vielen Dank für dieses eindrückliche Gespräch.
Der Verband
In 24 Städten in fast allen Regionen Deutschlands arbeitet der Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. als interkultureller Familienverband. Er bietet Workshops, Beratungen und Mitmachprojekte für Paare und Familien mit und ohne Migrationsgeschichte an. Die Angebote und ebenso die Lobbyarbeit des Verbandes liegen an den Schnittstellen Familien-, Bildungs- und Migrationspolitik. Einen großen Teil dieser Arbeit tragen ehrenamtlich Aktive bei: Einzelpersonen, Eltern, Multiplikator:innen und Fachkräfte.
Dankeschön!
Dieses Interview wurde am 20. Januar 2021 geführt. HaBilNet möchte sich ganz herzlich bei Frau Ringler für die freundliche Mitwirkung bedanken.
Das Interview wurde von HaBilNets aktivem Mitglied Mareen Pascall geführt und verschriftlicht.