Mehrsprachigkeit in Deutschland – eine (weiterhin unnötige) kontroverse Debatte.
Einleitende Lektüre zum Faktencheck Mehrsprachigkeit in KiTa und Schule
Deutschland ist ein mehrsprachiges Land! Nicht nur, weil spätestens mit dem Erwerb der ersten Fremdsprache alle Personen als mehrsprachig gelten – wir können davon ausgehen, dass bundesweit etwa 30-50% der Schülerinnen und Schüler neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache in ihrem außerschulischen Alltag verwenden, die sie ohne formellen Unterricht innerhalb der Familien erworben haben. In urbanen Gebieten wie Frankfurt/Offenbach oder Berlin/Kreuzberg ist der Anteil sogar um einiges größer.
Zu den Sprachen in Deutschland zählen somit nicht nur die als Fremdsprachen in der Schule gelernten Sprachen, z.B. Englisch und Französisch, sondern auch z.B. Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Kurdisch, Griechisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, und viele andere sogenannte „Herkunftssprachen". Das zeigen die Ergebnisse des Mikrozensus bzw. repräsentativer Sprachensurveys. All diese und viele weitere Sprachen werden in Deutschland im informellen öffentlichen und privaten sozialen Umfeld gesprochen. Wir finden sie an verschiedenen Orten des öffentlichen und nicht-öffentlichen Lebens, in Behörden und in Bildungsinstitutionen. Aber auch in den urban landscapes (s. Abb. rechts und oben), in der Kultur und der Musik und in sozialen Netzwerken sind sie sicht-, hör- und lesbar und werden mitunter in kreativer Weise gebraucht und ihre Verbreitung und Nutzung durch die Kultur der Digitalität beschleunigt.
So finden sich v.a. in der der neuen Generation von Musikerinnen und Musikern mehrsprachliche Einflüsse, z.B. in den Songs des Rappers Chefket oder der Tiroler Rapperin NENDA. Ebenso sind jugendsprachliche Varietäten (sichtbar in der Auswahl der jährlich durchgeführten Wahl zum Jugendwort des Jahres) geprägt durch Einflüsse des Arabischen (z.B. „Yalla"), Türkischen (z.B. „hayvan"), oder Zazaischen (z.B. „Babo", s. dazu die Diskussion des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch).
Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Kommunikation sind somit allgegenwärtig – ganz im Sinne des europäischen Ziels der Dreisprachigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Dennoch wird über das Thema Mehrsprachigkeit in der Öffentlichkeit, in Medien, von Politikerinnen und Politikern, Bildungsakteurinnen und -akteuren und Forscherinnen und Forschern immer wieder kontrovers diskutiert. Während einige deutliche Vorteile in der Mehrsprachigkeit sehen, beurteilen andere diese und ihre Auswirkungen auf den Sprachgebrauch neuer Generationen als Risikofaktor. Vor allem geschieht dies vor dem Hintergrund schulischer Leistungen und bestimmter Sprachen. Trotz vielseitiger Bemühungen der Wissenschaft (z.B. mit Flyern oder Artikeln), von Vereinen und Verbänden, oder dem Online-MiGAZIN hier Aufklärung zu leisten, halten sich verschiedene Mythen und Vorurteile weiterhin hartnäckig.
Das Lernen mehrerer Sprachen überfordere Kinder und Jugendliche und das Wechseln zwischen mehreren Sprachen sei Ausdruck mangelnder Sprachfähigkeit. Als vermeintliche Lösung werden wiederholt eine Deutschpflicht bzw. Verbote ausgesprochen, etwa dass Schülerinnen und Schüler auf dem Schulhof und im Unterricht nicht in anderen Sprachen als der Amts- und Unterrichtsprache sprechen sollten.Das mediale Echo solcher Beiträge ist häufig größer („Good news is bad news") als gegenteilige Stellungnahmen und Stimmen der Befürwortenden mehrsprachiger Förderung, z.B. der Mehrsprachigkeitsforscherinnen İnci Dirim, Heike Wiese, Rosemary Tracy oder Annick De Houwer.
Dabei hat die empirische Mehrsprachigkeitsforschung in Deutschland in den letzten zehn Jahren durch einschlägige Förderprogramme, z.B. des BMBFs, und durch Evaluationen von eingeführten bilingualen Schul- und Unterrichtsmaßnahmen den international schon längeren Konsens bestätigt: Mehrsprachiges Aufwachsen ist keine Last und führt auch nicht zur Überforderung. Entsprechend gestaltete bilinguale Modelle bringen auch einsprachig Aufwachsenden Vorteile!
Unabhängig davon gehen Empfehlungen nur das Deutsche oder umgekehrt nur die Herkunftssprache zu Hause zu sprechen, häufig an den Kommunikationspraktiken in mehrsprachigen Familien vorbei, wie der Logopäde und Lehrer von Deutsch als Zweitsprache Ali Dönmez in der ORF Sprechstunde anmerkt. Das Wechseln zwischen Sprachen und Sprachmischungen ist ganz normal für mehrsprachige Kommunikationspraktiken, auch darauf weist die sprachwissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten hin.
Warum gibt es aber immer wieder eine so leidenschaftliche Debatte zu diesem Thema?
Grundsätzlich bewegt das Thema Sprache uns Menschen schon immer, das sieht man aktuell an der Diskussion um gendergerechte und diskriminierungssensible Sprache. Bei dem Thema Bildung, zu deren Zugang sprachliche Kompetenzen ohne Frage der Schlüssel sind, wird jedoch Mehrsprachigkeit fälschlicherweise immer wieder als Risikofaktor für Bildungserfolg angeführt, wenn es sich nicht um Deutsch-Französische oder Deutsch-Englische Mehrsprachigkeit handelt. Das ist aber empirisch nicht haltbar, wie bereits in mehreren Sekundäranalysen der regelmäßig durchgeführten Bildungsvergleichsstudien (z.B. PISA) festgestellt wurde: Bildungserfolg ist vor allem von der sozialen Herkunft bzw. dem Zugang zu Bildung abhängig. Das gilt für ein- und mehrsprachig aufwachsende gleichermaßen.
Sprachen ebenso wie Dialekten werden außerdem bestimmte Werte zugeschrieben. Sie werden nach Beliebtheit und in prestigereiche und prestigearme kategorisiert. Dabei werden vor allem Sprachen, die nicht Gegenstand des üblichen Fremdsprachenkanons, also nicht Französisch oder Englisch sind, in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als prestigeärmer wahrgenommen. Dies führt zu Unsicherheiten seitens der Eltern, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, bzw. zu dem Glauben, dass Türkisch, Polnisch oder Bosnisch nicht auf den Bildungserfolg ihrer Kinder einzahlen. Ebenso berichtet das pädagogische Personal über Unsicherheit, ob und, wenn ja, wie sie Mehrsprachigkeit im Unterricht und Kitaalltag berücksichtigen dürfen und können.
Wenngleich es, wie oben geschrieben, bereits vielfach Vorstöße aus der Wissenschaft und verschiedenen Initiativen gab, Aufklärung zu leisten, scheint die Unsicherheit und das Nichtwissen zu Mehrsprachigkeit und mehrsprachigem Aufwachsen weiterhin zu bestehen. In einem Faktencheck habe ich deswegen nochmals den Versuch unternommen, die etablierte internationale Forschung mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem deutschsprachigen Raum abzugleichen und die am häufigsten und kontroversesten diskutierten Fragen zu diesem Themenkomplex zu beantworten.
Ich fasse sie hier kurz zusammen. Der Faktencheck samt ausführlichen Antworten steht in der Seitenleiste als Download zur Verfügung (und darf und soll an alle Interessierten und Aufzuklärenden weitergegeben werden).
Über den Autor
Dr. Till Woerfel ist promovierter Sprachwissenschaftler, Forscher, Speaker und Fortbildner in den Bereichen sprachliche Bildung, Mehrsprachigkeit und digitale Transformation. Im Rahmen seiner Tätigkeit erforscht er, welche Sprachbildungskonzepte für ein- und mehrsprachig aufwachsende Schüler:innen wirksam sind und wie digitale Lehr-/Lernmittel das (mehrsprachige) Lernen unterstützen können.
Zur Zeit forscht und lehrt er am Mercator-Institut für Sprachförderung und Zweitsprache der Universität zu Köln.
Mehr lesen
Übersetzung
Das Graffiti (siehe Abb. oben) heißt auf Deutsch: Nur du und ich, glücklich für ein ganzes Leben. Lasst uns die Ewigkeit leben.
Fotolizenz CC BY SA 4.0 (c Till Woerfel)
Faktencheck Mehrsprachigkeit – eine Zusammenfassung
Stimmt es, dass mehrsprachige Kinder überfordert sind, wenn sie zur gleichen Zeit mehrere Sprachen lernen?
- Mehrsprachig aufwachsende Kinder sind keinesfalls überfordert, wenn sie zur gleichen Zeit oder zeitlich versetzt mehrere Sprachen in früher Kindheit lernen. Ganz im Gegenteil, sie haben sogar Vorteile dadurch. So zeigen Studien, dass Sprachwissen oder Sprachlernerfahrungen förderlich für den Erwerb weiterer Sprachen sind. Das betrifft im Übrigen auch Kinder und Jugendliche, die erst durch den schulischen Fremdsprachenerwerb mehrsprachig werden. Auch sie können ihr dadurch ausgeprägteres metasprachliches Bewusstsein und ihre Sprachlernerfahrungen für den Erwerb weiterer Fremdsprachen lernförderlich nutzen.
Stimmt es, dass Kinder, die mehrere Sprachen zur gleichen Zeit lernen, keine richtig lernen?
- Die Annahme, dass Kinder, die mehrere Sprachen zur gleichen Zeit lernen, keine richtig lernen ist sprachwissenschaftlich nicht haltbar. Hier ist es wichtig die Faktoren zu kennen, die zu individuellen Unterschieden in der sprachlichen Entwicklung in den jeweiligen Sprachen führen. Dazu gehört etwa der Zeitpunkt des Erwerbs einer Sprache, die Quantität und Qualität des sprachlichen Angebots, das ein Kind in der jeweiligen Sprache erhält, und wie häufig die jeweiligen Sprachen in welchen Kontexten verwendet und gefördert werden. All dies kann zu unterschiedlichen sprachlichen Ausprägungen führen, die sich aber im Lebensverlauf immer wieder ändern können.
Stimmt es, dass Eltern ihre Kinder am besten sprachlich fördern, wenn sie mit ihnen zu Hause Deutsch sprechen, auch wenn sie selbst eine andere Erstsprache haben?
- Mehrsprachige Eltern fördern ihre Kinder nicht automatisch sprachlich am besten, wenn sie mit ihnen zu Hause Deutsch sprechen, auch wenn sie selbst eine andere Erstsprache haben. Eltern, die glauben, sie müssten auf das Sprechen einer bestimmten Sprache mit ihrem Kind verzichten, schaffen dadurch mitunter eine künstliche Kommunikation. Grundsätzlich ist es sprachlernförderlich, wenn Bezugspersonen mit ihren Kindern jeweils die Sprache sprechen, in der sie sich selbst am stärksten fühlen – das sind häufig auch mehr als eine Sprache oder die Sprache, mit der sie Emotionen am besten ausdrücken können.
Müssen Erzieherinnen und Erzieher bzw. Lehrkräfte selber mehrsprachig sein, um die Mehrsprachigkeit von Kindern fördern zu können?
- Nein, denn sie können Lernorte und Lerngelegenheiten didaktisch so gestalten, dass Familiensprachen einbezogen werden können. Das kann etwa durch das ritualisierte Aufgreifen der Sprachen in Gesprächskreisen geschehen oder im Unterricht die Verwendung der Familiensprache durch Schülerinnen und Schüler beim Bearbeiten einer Aufgabe. In bilingualen Kitas und Schulen, im bilingualen Unterricht, im Fremdsprachenunterricht und in (außer-)schulischen Angeboten wie dem herkunftssprachlichen Unterricht sind Kompetenzen in den Familien- bzw. Fremdsprachen seitens der Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrpersonen unumgänglich. Idealerweise ist das Personal selber mehrsprachig und verfügt über Kompetenzen in der Umgebungssprache, also in Deutschland das Deutsche, sowie über Kenntnisse zwei- und mehrsprachiger Erwerbsverläufe von Kindern und Jugendlichen und den damit verbundenen Besonderheiten.
Welche mehrsprachigen Modelle haben sich auf der Schul- oder Unterrichtsebene als wirksam erwiesen?
- Der Königsweg einer wirksamen mehrsprachigen Förderung sind bilinguale Schul- und Unterrichtsmodelle, die verschiedene Sprachpaare miteinbeziehen und mehrsprachiges Personal beschäftigen. Obwohl die Wirksamkeit solcher bilingualen Programme international schon sehr lange nachgewiesen ist, sind sie in Deutschland nach wie vor selten. Die Beispiele des Schulversuchs Bilinguale Grundschulklassen in Hamburg und der bilingualen Staatlichen Europaschule in Berlin (SESB) zeigen, dass sowohl mehr- als auch einsprachig aufwachsende Schülerinnen und Schüler von solchen Modellen profitieren. Zu Translanguaging-Ansätzen, mit denen Lehrkräfte die vorhandenen mehrsprachigen Ressourcen Lernender in der Unterrichtskommunikation berücksichtigen können, liegen bereits einige Belege vor, die positive Effekte auf fachlichen Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern, z.B. in Chemie oder Mathematik zeigen.
Der Faktencheck Mehrsprachigkeit in Kita und Schule des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache:
PDF
Zudem haben das Mercator-Institut und die Universität Hamburg Glossare zu zentralen Begrifflichkeiten aus dem Bereich Mehrsprachigkeit veröffentlicht:
Basiswissen sprachliche Bildung